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Titel
Kartographie und Weltanschauung. Visuelle Wissensproduktion im Verlag Justus Perthes 1890–1945


Autor(en)
Meyer, Philipp Julius
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

Der Gründungsaufruf des Verbands deutscher Schulgeographen aus dem Jahr 1911 bekräftigte mit dem viel zitierten Slogan "Wissen ist Macht, geographisches Wissen ist Weltmacht" nicht nur den eigenen Wirkungsanspruch, der Satz steht auch für das im 19. Jahrhundert gewachsene Selbstbewusstsein, den bemerkenswerten Erfolg und den umfassenden Deutungsanspruch einer Fachdisziplin, die zu dieser Zeit akademisch noch nicht in gleicher Weise wie heute zwischen der Objektkonstituierung der eigenen Profession und der kartographischen Verarbeitung ihrer Wissensproduktion unterschied. Folglich studierte der später den 1785 gegründeten Justus Perthes Verlag über Jahrzehnte prägende Kartograph Hermann Haack zunächst bei Alfred Kirchhoff in Halle an der Saale Geographie, spezifizierte seine Ausbildung dann bei Hermann Wagner in Göttingen, wechselte anschließend als „adjunctus“ Ferdinand von Richthofens nach Berlin, bevor er sich ab 1897 in Gotha in erster Linie der Schulkartographie widmete und dort über mehrere politische Systembrüche hinweg zu einer der einflussreichsten deutschen Kartographen aufstieg. Nahezu zeitgleich wirkte auch der fünf Jahre ältere Paul Langhans in der 1881 von dem damals gerade 23-jährigen Bernhard Perthes übernommenen „geographischen Anstalt“ in Thüringen. Beide Kartographen waren soziale Aufsteiger, wenngleich Langhans im Unterschied zu Haack über kein abgeschlossenes Studium verfügte. Beide schafften es gleichwohl, sich durch ihre visuellen Handschriften und eine enorme Produktivität über Gotha hinaus international zu profilieren. Bereits diese außergewöhnliche Konstellation lädt dazu ein, anhand der beruflichen wie auch persönlichen Entwicklungen der beiden Protagonisten „die kartographische Wissensproduktion […] in ihrer Beziehung zu den politischen Entwicklungen im Zeitraum zwischen 1890 bis 1945 unter der Perspektive der visuellen Gestaltung ihrer Karten und in Verbindung mit verlagswirtschaftlichen Aspekten“ (S. 13f.) zu untersuchen. Philipp Julius Meyer hat auf der Grundlage eines breiten Quellenkorpus, das den gesamten Prozess der Kartenproduktion und deren Vermarktung umfasst, seine an der Universität Erfurt verteidigte Dissertation geschrieben, die – lässt man die doch etwas störenden Leseanweisungen mal beiseite – nicht nur konzeptionell und empirisch überzeugt, sondern gleichzeitig noch dazu auffordert, den in Gotha verwahrten und noch nicht einmal annähernd gehobenen Schatz tausender Karten, Atlanten und Fachzeitschriften des einstmals renommierten Verlags ebenso systematisch wie theoriegeleitet in Augenschein zu nehmen.

Das Buch enthält sieben Kapitel, die von einer ebenso ausführlichen wie sachkundigen Einleitung sowie von einer auf die Entwicklungen nach 1945 abhebenden Schlussbetrachtung gerahmt sind. Meyer geht die Sache konsequent chronologisch an und markiert darüber hinaus mit den Parametern Wissen, Politik, Visualität und Ökonomie einen Interpretationsrahmen, der sich für die Rekonstruktion und Deutung kartographischer Wissensproduktion als tragfähig erweist. Während sich das Narrativ an den Biographien und Arbeitstechniken der beiden Hauptfiguren orientiert, leistet die Studie insgesamt doch einiges mehr: Haack und Langhans stehen nicht nur für die Professionalisierung und Kommerzialisierung kartographischer Weltdeutung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, ihre Lebensläufe wie auch deren Rezeption nach 1945 verweisen zudem auf das komplexe Verhältnis von politischen Weltanschauungen, privatwirtschaftlichen Produktionsbedingungen und kartographischer Praxis. Haack galt lange Zeit als ideologisch unbelasteter, wissenschaftlich seriöser und fachlich pragmatischer Experte, dem es gelungen war, sich den insgesamt vier politischen Systemen, die er als leitender Kartograph des Gothaer Verlags erlebte, sowie den wechselnden ökonomischen Herausforderungen der Kartenherstellung weitgehend geräuschlos anzupassen. Sein individueller Kartenstil war in erster Linie von einem plakativen Farbeinsatz unter anderem bei Schulwandkarten geprägt, wodurch eine Anschaulichkeit physikalischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Phänomene erreicht wurde, die sich für den Verlag auch ökonomisch rechnete. Die visuelle Koppelung geographischer Gegebenheiten, nationalistischer Weltdeutung und normativer Bewertungen kultureller Unterschiede überdeckte gleichsam die politischen Implikationen der Kartengestaltung und verlieh den graphisch konstruierten Raumbildern eine wissenschaftlich fundierte Evidenz, ohne übermäßig propagandistisch oder manipulativ zu wirken.

Langhans hingegen engagierte sich bereits während seines Studiums bei Friedrich Ratzel in Leipzig in antisemitischen und radikalnationalistischen Zirkeln, was er nach Abbruch seines Studiums und dem Wechsel nach Gotha 1889 lokalpolitisch noch intensivierte. Sein Eintreten für koloniale Expansion und Herrschaftssicherung, seine Mitwirkung am sogenannten „Nationalitätenkampf“ in den Grenzregionen des Deutschen Reiches und sein Engagement beim Aufbau antisemitischer Organisationen korrespondierte mit seinen kartographischen Projekten, in erster Linie mit der langjährigen Arbeit am Deutschen Kolonial-Atlas. Langhans profilierte sich nicht nur als überzeugter Kämpfer für ein ideologisch verklärtes Deutschtum, sondern er praktizierte auch eine auf Details fokussierte Kartensprache, mit der er sein ideologisches Verständnis eines ethnisch homogenen deutschen Raums visualisierte. Ökonomisch zahlte sich das für den Justus Perthes Verlag eher weniger aus. Langhans‘ Karten waren im Unterschied zum eher plakativen Stil von Haack „zu komplex, zu detailliert, zu wissenschaftlich im Duktus“ (S. 102) – trotz oder gerade wegen ihrer offenkundigen ideologischen Aufladungen.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich Haack verlagsintern endgültig als Führungsfigur durch, während Langhans trotz seiner zunehmend populären politischen Positionen in die Defensive geriet und fortan weniger als Kartograph denn als Herausgeber und Redakteur von Petermanns Mitteilungen fungierte. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass in den 1920er- und 1930er-Jahren die von Langhans bevorzugten, überwiegend auf Zensusdaten beruhenden Sprachenkarten als unzulänglich und eindimensional galten. Der Kampf um deutschen Raum brachte zudem neue Kartenstile hervor, wie sie beispielsweise in den stärker an der Werbebranche orientierten Suggestivkarten zur Anwendung kamen. Haack hingegen verstand es geschickt, sich dem politischen Zeitgeist pragmatisch anzupassen und die Unternehmensstrategie durch eine eingängige, auf Fernwirkung zielende Kartengestaltung gewinnbringend auszurichten, auch wenn sich dies aufgrund der nationalistischen Grundstimmung nach dem Versailler Vertrag international immer schwerer realisieren ließ.

Im Laufe der Studie zahlt es sich aus, dass Meyer den zeitlichen Schwerpunkt seiner Untersuchung auf das Kaiserreich und auf die Zeit im und nach dem Ersten Weltkrieg legt, zum einen, weil der Justus Perthes Verlag in diesem Zeitraum zu einem der angesehensten Unternehmen der Branche aufstieg, zum anderen, weil nur in diesem langen zeitliche Bogen die Entwicklungsdynamiken, Anpassungsleistungen und Anschlussfähigkeiten kartographischer Wissensproduktion nach der nationalsozialistischen Machtübernahme differenziert darzustellen und verständlich zu machen sind. Die nach 1945 in der DDR kolportierte Deutung, Haacks kartographische Arbeit sei stets von Wissenschaftlichkeit, Prägnanz und Anschaulichkeit bestimmt gewesen, während Langhans als ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus und „aktiver Nazi“ aus der Ahnengalerie des Verlags entfernt wurde, kann Meyer jedenfalls ebenso fundiert wie anschaulich demontieren. Haacks Schulwandkarten erweisen sich bei genauerer Betrachtung als nicht weniger ideologisch, sein gesamtes Wirken war allerdings stärker an den generellen Nützlichkeitserwägungen des Unternehmens orientiert, während Langhans es nicht vermochte, seine politische Agitation in eine ökonomisch erfolgreiche Kartenproduktion zu übersetzen. Meyers Studie zeigt „zwei unterschiedliche Typen in der Beziehung zwischen Kartographie und Politik […]: eine weltanschaulich motivierte, letztlich aber ökonomisch erfolglose und eine kalkülgesteuerte, anpassungsfähige und wirtschaftlich erfolgreiche, die visuelle Evidenz als Ressource für politische Ideologie“ (S. 430) zu mobilisieren verstand. Es hätte der Studie gutgetan, wenn diese Argumentation stärker am Kartenmaterial selbst und anhand der dort visuell erzeugten Raumbilder entwickelt worden wäre. Nichtsdestotrotz hat Meyer eine hervorragende und überaus lesenswerte Untersuchung vorgelegt, der hoffentlich qualitativ vergleichbare Forschungsprojekte zur Sammlung Perthes in Gotha folgen werden.

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